Ausstellungsrückblick
Finissage Kunstwege | Vias d’art Pontresina 2017

Gestern ging die Ausstellung Kunstwege | Vias d'art Pontresina 2017 mit der Finissage zu Ende. Die Ausstellungsmacher von Pontresina Cultura und die 15 Kunstschaffenden warfen einen Blick zurück auf ein überraschendes und bedeutsames Kunstprojekt. 

Es war ein Rekordsommer in Pontresina. Die Ausflügler und Feriengäste flanierten in Scharen auf der Via Maistra und genossen die für das Engadin ungewöhnliche Wärme. Dann und wann stolperte ein Tourist über einen stehen gelassenen Koffer oder vereinzelte beschwerten sich im Tourismusbüro, dass jemand da draussen einfach seine Wanderschuhe liegen gelassen habe. So sei das halt in der Hochsaison, wurde ihnen beschieden, man händigte ihnen freundlich eine Ausstellungsbroschüre aus und man sah davon ab, den Besitzer der Schuhe und des Koffers, Jan Kaeser, jedesmal zu benachrichtigen. Die Einheimischen und insbesondere die Kinder hatten Kaesers Arbeiten "eigentlich" und "sozusagen" schon lange ins Herz geschlossen, sie dachten sich fantastische und witzige Geschichten dazu aus; zwar wurde bei jeder Begegnung die Güte der Verankerung mit Rütteln und sanften Tritten geprüft aber die sorgfältig gefertigten, wertvollen Bronzeobjekte hielten stand.

 

Die kleine Cianotypie "Radis" von Patricia Jegher am Kirchenportal von San Nicolò jedoch, wirkte still und strahlend wie ein wertvolles Kleinod, lenkte nur die Augen auf das Strahlenmotiv der Pforte, die prismenförmig gebrochene Komposition des blauen Papiers zielte komplementär auf die Wirkung des Lichts und der Sonne. Eine Thematik mit grosser Symbolkraft, insbesondere für das Engadin.

 

Nicht minder von hoher Symbolkraft waren die verwegen fliegenden Sättel "Ils Sarazens" von Notta Caflisch an einem geschichtsträchtigen Ort, der "Ponte Sarazenum", der alten Brücke Punt Ota über der Schlucht von Pontresina. Bezüge zu wilden sagenumwobenen Reitervölkern, schwarzen Vögeln beflügelten die Phantasie des Betrachters. Wer den Weg hinunter zur Brücke gegangen ist, war sofort von dieser assoziativen Formation fasziniert.

 

Wie gesagt, es war ein Rekordsommer in Pontresina. Die 872 Parkplätze in und um Pontresina waren oft belegt. Heerscharen von Alpinisten und Wanderern bestiegen die Berge und Gletscher ringsum. Ihr heisser Atem liess die Firne weiter schmelzen und man erzählt sich, dass die naturverbundenen Berggänger zuweilen in Arno Oehris Requiem für einen sterbenden Gletscher einstimmten, das mahnend aus der Dorfkirche zu vernehmen war. Auch die graue Asche der verzweifelt dargebotenen Räucherstäbchen ("Buddha, Requiem für einen sterbenden Gletscher") hatte sich auf das gleissende Eis gelegt und der einst prächtig weisse und mächtige Gletscher sah im Sommer 2017 aus wie ein schon lange toter, verwesender Elefant. Alle wären bei diesem Anblick bereit gewesen, das Klimaabkommen sofort und höchstpersönlich zu unterschreiben, sogar das nächste Mal mit dem Zug anzureisen und die Ferienwohnung während ihrer 50-wöchigen Abwesenheit nicht zu heizen. Arno Oehri, dem Klangkünstler aus dem Fürstentum Lichtenstein gelang mit seinen Installationen ein äusserst eindringlicher Beitrag.

 

Die Wahrnehmung der Vergänglichkeit des dahinschmelzenden Morteratschgletschers versuchte auch Gaudenz Signorell und Jos Schmid aus heutiger fotografischer Sicht abstrakt wiederzugeben. Das grosse Banner mit der Darstellung der Naturgewalten hing an prominenter Stelle und der Anlick bleibt im Gedächtnis fest verankert. Gaudenz Signorell schuf im Dorfzentrum eine höchst emotionale Arbeit. Nicht weniger eindrücklich präsentierte sich die fotografische Arbeit von Jos Schmid, welche im Museum Alpin in einer geheimnisvollen Vitrine ausgestellt war. Wie ein "tromp oeil" gaben die sehr alt wirkenden Daguerrotypien erst bei sorgfältiger Betrachtung ihr Geheimnis preis. Es sind aktuelle Aufnahmen des in der Agonie liegenden Gletschers. Daneben erfuhr der Besucher auch Wissenswertes über die alte Technik und die Bedeutung der Landschaftsfotografie im Engadin. Ihm gelang eine kreative und wertvolle Auseinandersetzung mit dem Thema des Klimawandels.

 

Damit beschäftigte sich in ihrer fiktiven Forschungsarbeit auch Annina Thomann. Pontresina wurde seit diesem Sommer von mehreren bläulich schimmernden Objekten, Bakterien vom Typ Psychrophilus regalatus, bevölkert. Sie stammen aus dem Gebiet Munt da Barba Peider, eine Schuttregion, die fast senkrecht über unseren Köpfen auf 3000m ü.M. liegt, eine labile Zone von 2 Mio. Kubikmetern mit Blöcken und Geschiebe, welche einstweilen noch vom Permafrost zusammengehalten wird. Ein Damoklesschwert für das Dorf. Bei der Vorstellung, was passieren könnte, steigen unweigerlich Bilder von Bondo im Bergell hoch. Doch eine reale Gefahr könnte auch von den darin lebenden Mikroorganismen ausgehen. Die Vielfalt an Bakterien, Pilzen und anderen Kleinstlebewesen ist im alpinen Dauerfrostboden grösser als im darüberliegenden, aufgetauten Boden. Annina Thomann und Mikrobiologen fanden bis zu 1000 verschiedene Organismen, über viele war bislang nichts oder nur wenig bekannt. Proben des "Psychrophilus regalatus" wurden aufgetaut. Man weiss nicht, ob die Künstlerin noch die Kontrolle darüber hat - irgendwie erinnert es einen an Jurassic Park. Pontresina Cultura dankt Annina Thomann für den beunruhigenden Forschungsbericht. Pontresina kann sich nicht sicher fühlen, denn auch die Bakterien sind mittlerweile beängstigend gross geworden.

 

Im Gegensatz dazu, haben die Schwalben, die randulins, Pontresina wieder verlassen. Nichts als ihr Zuckerbäckerhandwerk im Gepäck werden sie wie in früheren Jahrhunderten auch ihren Lebensunterhalt im Ausland finden, hierher zurückkehren und wieder ihre stilvollen Nester bauen. Wie zum Beispiel die Villa Clivia, wo Patricia Jegher mit ihrer traditionellen Skulptur "Serac" eine verblüffende historische Verbindung von einer Zuckerbäckerform zu den Gletschern schuf. Das Objekt selbst, ein aufwändiger Bitumenguss, gefällt in Form und Textur. Die Skulptur wurde sehr gekonnt im Garten des einstigen Schwalbennests präsentiert. Viele Passanten erfreuten sich an diesem geheimnisvoll schönen Objekt.

 

Die poetischen Arbeiten von Beate Frommelt und Notta Caflisch nahmen das Engadin prägende Thema des Handwerks der Zuckerbäcker und der Emigration auf. "Sucre filé" und "Piz Zücher" von Beate Frommelt und "randulins" bestechen nicht nur durch ihre raumgreifende skulpturale Idee und vordergründige Symbolik sondern auch durch Ihre meisterhafte Komposition im Raum. Alle Besucher waren von diesen Interpretationen im neu erscheinenden Kontext sehr angetan.

 

Der Kontextbezug war bei der Ausstellung Kunstwege/Vias d'art in Pontresina in diesem Jahr sehr ausgeprägt. Viele Werke setzten sich gekonnt und intelligent damit auseinander. Herauszuheben sind unter diesem Aspekt die Arbeiten von Karin Karinna Bühler, welcher mit "Tengo um sonho" und "Dreams, Hopes and other Uncertainties" in den Hinterhöfen platziert ein perfekter Ortsbezug gelungen ist. Die Künstlerin hat mit ihren Augen gesehen, dass die Thematik der Gastarbeiter eine bedeutende für unsere Region ist und sie hat uns Einheimischen vor Augen geführt, wo diese meist unsichtbare Bevölkerungsgruppe lebt und träumt.

Ein anderes Personalhaus hat auch Ines Marita Schärer mit einer wunderbaren wie irritierenden, fiktiven Geschichte belebt. Aurora, die Hotelangestellte, die hier in ihrer kleinen, engräumigen Welt lebt, schreibt belanglose Begebenheiten in ihr Tagebuch, ihre Erlebniswelt ist klein hier als Saisonangestellte, sie bewegt sich in ihren Erinnerungen und Sehnsüchten an ihre Kultur zu Hause, ihre Arbeit hier ist eintönig -  aber auch sie hat Träume. Den Besuchern gefiel die konsequent immaterielle Umsetzung dieser Arbeit, nur eine Telefonnummer, nur ein Büchlein mit dem Titel "Fünf Sommer und acht Winter". Dass dieser innovative Ansatz sofort für eine Ausstellung für zeitgenössischer Kunst in Zürich aufgegriffen wurde, kann als Auszeichnung verstanden werden.

 

Es ist zwar hier, dieses gesichtslose "Personal", man sieht sie zuweilen morgens um sechs eilig in die Personaleingänge huschen, ihre Arbeitsuniform in lange, dunkle Mäntel gehüllt. in der Saison sind es hier schätzungsweise über 500, im Engadin über 5000. Sie arbeiten von morgens früh oder bis abends spät, in den Rüstküchen, Backoffices, Lingerien, als Zimmermädchen, Gärtner und Chauffeure. Sie verdienen einen kleinen Lohn und nehmen vielleicht auch deshalb nicht am Dorfleben teil. Vier Monate im Hintergrund und Untergrund der Hotelpaläste und im April holen Sie Kleinbusse mit portugiesischen Nummernschildern wieder ab.

 

Früher wurden diese Arbeiten von Leuten aus den armen Nachbartälern des Engadins gemacht. Mädchen und Burschen aus der Surselva, dem Oberhalbstein, dem Puschlav und Bergell, dem Unterengadin, der Val Müstair und dem Tirol schufteten für die reichen Engadiner Gäste, pro Gast war im Durchschnitt 1 Angestellter zugeteilt.  Deren Lebensgeschichten werden im Film "Fremdes Brot hat sieben Krusten" des Pontresiner Filmemachers Christian Schocher erzählt, welche die Videokünstlerin Ursula Palla zu ihren wunderbar erstaunlichen und perfekt ortsbezogenen Arbeiten inspiriert hat. Zum einen schuf sie mit "bird's tale", dem starken und freiheitsliebenden Adler im Käfig das Lieblingsobjekt der Rundgangteilnehmer, zum anderen thematisiert sie die Sysiphusarbeit im Hotel in ihrer Videoinstallation How to pick Berries. Angestellte, die immer wieder Geschirr aufschichten, bis der Turm zusammenbricht.

 

Vielleicht Geschirr von Richard Strauss, Herbert Marcuse oder Max Liebermann? Genau so wäre es denkbar, dass im Video die Betten von Arthur Schnitzler oder Conrad Ferdinand Meyer gemacht werden, dass das Gemüse für Hans Christian Andersen, Elizabeth Main oder Wladimir Ilijtsch Lenin gerüstet wird, Katja Mann oder Sean Connery an den Bahnhof chauffiert werden, der Tisch für Bruno Walter und seine Frau gedeckt oder das Hemd für Stefan Zweig gebügelt wird. Here Comes Everybody - die anfänglich kryptisch erscheinende typographische Arbeit von Hannes und Petruschka Vogel bekam einen Bezug zur Hauptbühne eines Hotelbetriebs, repräsentiert von 22 Persönlichkeiten die hierhergereist waren und Pontresina mit fremden Augen gesehen haben. Sie bilden mit den Namensschildern eine optische Verwandtschaft zur Projektion von Echowörtern aus James Joyce' Finnegans Wake anlässlich des Festes der Künste im Jahr 2000. Ihre klug inszenierte Verbindung zum Universum der Literatur, sowie der aufklärenden Recherchearbeit in den Hotel- Gästebüchern machte ihre Arbeit HCE zu einem ganz wertvollen Ausstellungsbeitrag.

 

Zwei überraschende und hintersinnige Arbeiten von Almira Medaric nahmen Abstand vom Hotelbetrieb und richteten den Blickwinkel auf Marketingabteilungen und Architekturbüros touristischer Regionen. Die Arbeit heisst Point de vue. Die zwei Liegestühle, als Sinnbild der touristischen Infrastruktur mit Blick auf eben diese touristische Infrastruktur, dekoriert mit traditionellen Schnitzereien, passen gut in die vermarktete Erlebniswelt der Alpen, so gesagt zu diesem "Alpen Chic". Die Tourismuswirtschaft bedient sich der Natur, der Symbole und der Traditionen, manchmal einfach inszeniert, um vordergründig ein heimatliches, exotisches und ursprüngliches Ambiente zu schaffen. Die Ursprünge und Bedeutungen werden aber nicht transportiert, sie geraten in Vergessenheit, werden gedankenlos auf Immobilien und Mobilien kopiert, zuweilen sogar mit Füßen getreten, wie wir es eindrücklich beim Betreten der Sgrafitto-Arbeit Copy/Paste erfahren konnten. Almira Medaric hat mit diesem Perspektivenwechsel auf einen vernachlässigten Aspekt der Wahrnehmung einer Ferienregion hingewiesen.

 

Carmen Casty forderte mit ihrer bisweilen surreal wirkenden Installation "Welcome Stranger" heraus. Das ambivalente Verhältnis des modernen Menschen zur Natur, der sich spiegelnde Himmel in all seinen Stimmungen deuten subtil auf die Sphären, in denen wir uns bewegen. Die Materialität spielt in der Aussage der Arbeiten "Welcome Stranger" und "Nugget" eine zentrale Rolle. Kies, also natürliches Geschiebe aus den Bergen kontrastiert mit der reflektierenden Künstlichkeit des Urbanen. Die Pechfarbe auf dem möglicherweise goldenen Nugget verführt unsere Gedanken in die Märchenwelt. Die Ausstellungsbesucher wollten wissen, ob unter dem Pech wohl Gold zum Vorschein käme; sie haben daran gekratzt und mussten feststellen, dass es wohl nur ein Sinnbild für die Vermarktung und Bewirtschaftung von etwas unersetzlich Kostbarem, der Natur ist. Eine sehr gut präsentierte und inspirierende Arbeit.

 

Allen Künstlerinnen und Künstlern gemeinsam war die engagierte Suche nach dem Authentischen in unserer Region, so wie es die Präambel zur Ausstellung 2017 formuliert hatte. Das Resultat in ihrer Gesamtheit war überraschend und bedeutend zugleich und die Veranstalter zeigten sich erfreut darüber, dass sich die 15 Kunstschaffenden auf diese Herausforderung eingelassen haben. Benno Conrad, der Kurator dieser Ausstellung konnte auch dieses Jahr feststellen, dass die Platzierung von Kunstwerken im öffentlichen Raum mit zu den anspruchsvollsten Disziplinen der modernen Kunst gehört. Der Output bewege sich irgendwo zwischen Störung und Vollendung. Nicht immer gelänge die Intervention gleich gut, weil die vorgefundene Situation vielleicht wirklich schwierig zu bespielen sei. Eines ist aber wurde offensichtlich: Wie bei den grossen Ausstellungen im öffentlichen Raum entwickelt sich das Spektrum der Aussageweisen auch hier in Pontresina enorm, wie die Arbeiten dieser Ausstellung gezeigt hätten. Durch Kunst verändere sich die Wahrnehmung eines Ortes. Die Absicht von Pontresina Cultura, gute Kunst zu den Bewohnern und Besuchern zu tragen, damit sie den Ort mit anderen Augen sehen, habe sich mit dieser Künstlergruppe hervorragend realisieren lassen. "Dieser Ansatz funktioniert nicht nur in städtischen Räumen, wie in diesem Sommer bei den grossen Ausstellungen wie der Documenta in Athen und Kassel, bei den Skulpturprojekten in Münster. Es gelingt auch in einem Dorf, mit seiner Kleinräumigkeit, und es gelingt besonders dann, wenn die Künstler und Künstlerinnen angehalten werden, einen engen Ortsbezug und einen Kontakt zur Bevölkerung herzustellen."

 

Pontresina, 20.10.2017 

Benno Conrad, Kurator Kunstwege | Vias d'art Pontresina 2017